Die folgende kurze Schrift entstand im wesentlichen aus Akten und Unterlagen des Berliner Bundesarchivs und des Landesarchivs Aurich. Sie erhebt keinen Anspruch, eine Darstellung der Geschichte des Emder RFB zu sein, im Gegenteil. Durch die Beschränkung auf die Fälle West, Köhler, Winter und Werno soll nur ein kleiner Einblick in Verwicklungen und Entscheidungen einzelner Betroffener gegeben werden, die ganz personalisiert die Probleme im Zusammenhang mit dem Widerstand gegen Hitler, aber auch die Verfehlungen in den politischen Kämpfen der Weimarer Zeit überhaupt widerspiegeln.

Die genannten Personen mögen stellvertretend stehen für die vielen von ihrer politischen Einstellung Überzeugten - genauso wie für ihre Schwächen und ihr persönliches Falschverhalten.

Mag der Leser selbst ein Urteil finden, inwieweit jeder Einzelne Schuld auf sich geladen hat...

Der „Rote Frontkämpferbund"

„...Die KPD erstrebt, wie gerichtsbekannt, die Diktatur des Proletariats im Wege des bewaffneten Aufstandes (der) unter ihrer Führung organisierten Arbeiterschaft. (Die Partei) rechnete (1930/W.) (...) mit dem baldigen Heranreifen einer den 'Aufstand auslösenden akuten revolutionären Situation'. Eines der wesentlichen Mittel zur Beschleunigung und Vorbereitung des Aufstandes ist der 'Rote Frontkämpferbund', der zwar im Jahre 1929, samt seinen Nebenorganisationen der 'Roten Jungfront' und der 'Roten Marine', im ganzen Reich verboten wurde, heimlich aber überall weiterbesteht, wie gerichtsbekannt ist und wie seine illegale Bundeszeitung 'Die rote Front' und seine illegale Funktionärszeitschrift 'Der rote Führer' immer wieder beweisen. Der RFB ist dazu bestimmt, sich im Falle des Aufstandes zur 'Roten Armee' auszuweiten und in der Epoche der Vorbereitung des Aufstandes seine Mitglieder und Führer in der Kunst des Aufstandes, d. h. in der Technik und Taktik des Bürgerkrieges zu schulen. Ein besonders wichtiges Ressort des RFB ist das des Gegnerobmannes, das mit dem revolutionären Nachrichten- und Zersetzungsdienst der KPD eng zusammenarbeitet. Der Gegnerobmann hat (...) die gegnerischen parteipolitischen Organisationen und Verbände (zu beobachten)...". ( Aus der Anklageschrift gegen West* u. Althoff*/Akte ZC 14299 Band 1+2 Bd. 1 Bl. 18).

Wie überall im deutschen Reich der Weimarer Republik ist auch in Emden die KPD bestrebt, sich militärisch im Rahmen des RFB zu organisieren und zu bewaffnen. Gleichzeitig versucht sie, möglichst viel über die zu erwartenden Bürgerkriegsgegner Reichswehr und Polizeieinheiten, sowie die immer gefährlicher und brutaler werdenden Faschisten zu erfahren. Die Kämpfe und Aufstände in Deutschland nach dem Ende des ersten Weltkrieges (Soldatenräte, Spartakusaufstand und die militärisch geführten Auseinandersetzungen während des Kapp-Putsches) haben deutlich gezeigt, dass nur eine auf alle Eventualitäten vorbereitete und gut gerüstete Revolutionsbewegung zum Erfolg kommen kann.

Den verantwortlichen Parteiführern ist klar, dass man mit dieser heimlichen Bewaffnung gegen geltendes Recht verstößt. Das wird auch den Emdern bewusst gewesen sein, trotzdem beteiligen sie sich mit großer Energie an den Vorbereitungen zum Umsturz. Denn sie wollen eine andere, eine sozialistische Republik, und das erfolgreiche Beispiel der russischen Oktobertage ist gerade mal ein Dutzend Jahre alt...

Niemand kann sagen, was geschehen wäre, hätten die Kommunisten die gehorteten Waffen wirklich zum Einsatz gebracht. Es ist dies eines der dunklen Kapitel des Widerstandes der Kommunisten vor der Machtergreifung Hitlers. Denn eine (moralisch vielleicht sogar gerechtfertigte) erfolgreiche deutsche kommunistisch geführte Revolution würde sich in letzter Konsequenz nicht nur gegen die Faschisten gerichtet haben, sondern genauso gut gegen alle anders denkenden Sozialdemokraten und Anhänger bürgerlicher Parteien.

Der Stalinismus ist schließlich nicht nur das Resultat des Machtwillens und Fehlverhaltens eines einzelnen Diktators, sondern er ist bis zu dem Zeitpunkt (und vielleicht bis heute) im Kern das ungelöste Problem, wie eine ganze von kapitalistischen Kräften beherrschte Gesellschaft in nationalen Grenzen radikal umgestaltet und dennoch auf völlig neue Weise demokratisch kontrolliert werden kann. Nämlich: wie zerschlägt man machtbedingte und allgemein gewohnte Strukturen und erneuert sie vollständig, ohne (ungewollt! aber de facto) Teile der alten Strukturen klammheimlich in neuem Gewande zu übernehmen. Die „Diktatur des Proletariats" sollte die Vorbereitung einer wahrhaft demokratischen und humanistischen Gesellschaft nach sozialistischen Gesichtspunkten sein, ist aber im wesentlichen an dem oben genannten Problem gescheitert...

Dass die Geschichte anders verlaufen ist, wissen wir. Als die Nazis die Weimarer Republik zerschlugen, blieben die Gewehre der KPD in ihren Verstecken und Arsenalen. Die Bewegung war personell und ideologisch viel zu schwach vorbereitet, als dass sie es mit der konzentrierten militärischen Macht von Armee, Polizei und SA und SS hätte aufnehmen können.

Kurze Daten zur Geschichte des „Roten Frontkämpferbundes":

Im Mai 1924 gegründet, entwickelte sich die Organisation reichsweit schnell und zählte schon bald über 100.000 Mitglieder. Neben dem deutlichen Auftreten als rote Kampftruppe in der Öffentlichkeit oblag den uniformierten RFBlern der Schutz von Versammlungen, Demonstrationen und Einrichtungen der KPD. Eine weitere war der Aufbau von Kontakten zum SPD-nahen „Reichsbanner SchwarzRotGold" - einerseits sicherlich, um die SPD-Genossen in die eigenen Verbände zu holen, andererseits aber auch, um eine Verbindung zur sozialdemokratischen Seite des proletarischen Aufgebotes zu haben. Diese Fühlungnahme erstreckte sich sogar auf die dem Arbeitermilieu entstammenden Angehörigen der SA.

Die kleinste Einheit des Bundes bildete die Fünfergruppe, die aus vier Mann und einem Gruppenführer bestand. Drei Fünfergruppen ergaben einen Zug, der von einem Zugführer und dessen Stellvertreter geleitet wurde. Drei Züge bildeten wiederum einen Sturmtrupp, der einem Sturmtruppenführer und dessen Stellvertreter unterstand. Der weitere Aufbau gliederte die einzelnen Regionen (Gaue) bis hin zur Reichsleitung.

Neben dem aktiven RFB gab es weiter eine RFB-Reserve, in der ältere Leute und die durch ihre politische Tätigkeit an einem regelmäßigen Dienst verhinderten Parteifunktionäre erfasst wurden. Und schließlich existierte auch eine Abteilung „Rote Marine", deren Mitglieder Seeleute waren. November 1932 entstand der getarnte „Rote Massenselbstschutz", von dem noch die Rede sein wird.

Einmal jährlich fanden in Berlin „Reichstreffen" statt, wobei die zur Schau gestellte Stärke und die Diszipliniertheit selbst bürgerliche Kreise beeindruckte. Dennoch kam es in der Reichshauptstadt am 1. Mai 1929 zu blutigen Zusammenstössen des RFB mit der Polizei, bei denen 33 Menschen ihr Leben ließen und die als „Blutmai 1929" in die Geschichte der KPD eingingen.

Als Konsequenz aus diesen Auseinandersetzungen wurde staatlicherseits ein Verbot des RFB erlassen, das offiziell bis zum Machtantritt Hitlers nicht aufgehoben wurde. Der RFB setzte daraufhin seine Tätigkeit zum Teil illegal, zum Teil unter neuen, legalen Bennungen und Formen fort. Es entstanden sogenannte Arbeiterwehren, wie z.B. der „Kampfbund gegen den Faschismus" und die „Selbstschutzstaffeln" („Roter Massenselbstschutz"), die sich nun vor allem gegen die immer häufiger auftretenden und immer brutaler werdenden Übergriffe der Faschisten richteten.

Der RFB in Emden

Die Entwicklung des RFB in Emden ist nur sehr schwer nachvollziehbar, da es naturgemäß hierüber kaum Unterlagen gibt. Verurteilungen von Mitgliedern des Bundes auf der Grundlage der Weimarer Gesetzgebung hatten auch nach dem Ende des Hitlerfaschismus noch Bestand und wurden nicht aufgehoben. Deshalb schwiegen die ehemaligen RFBler noch konsequenter als es die Kommunisten nach dem Krieg ohnehin schon taten.

Die wenigen Zahlen und Berichte geben allenfalls einen vagen Eindruck der tatsächlichen Kampfstärke der Emder „Rotfrontkämpfer" und der „Roten Marine" wieder. Vor allem die Jahre des Aufbaus bis hin zum Verbot des RFB 1929 liegen ziemlich im Dunkeln, sodass für diese Zeit nur anhand der allgemeinen Entwicklung der roten Kampfverbände Aussagen zum Stand der revolutionären Vorbereitungen in der Hafenstadt gemacht werden können.

Der erste Emder Verband entstand gegen Ende 1926 und konnte wenige Wochen darauf bereits fast 90 Mitglieder zählen (1).

Die Illegalität knapp zweieinhalb Jahre später hatte natürlich auch Auswirkungen auf den Bezirk Nord-West, zu dem Emden gehörte. Etliche RFB-Leute wurden verhaftet. Die KP ließ daraufhin Materialien, Druckwerkzeuge und anderes Gut der Organisation verlagern und sichern.

Trotzdem fand „...am 28.7. (1929/W.) (...) in Bremen eine Landeskonferenz der nordwestdeutschen Arbeiterwacht (Ersatzverband/s.o./W.) statt. Anweisungen seien von (der) RFB-Reichsleitung erteilt worden. Die Landeskonferenz war von 55 Delegierten besucht und lokale Schutzorganisationen befinden sich nach dem Bericht in folgenden Orten des Bezirks: Bremen (4 einzelne Org.), Vegesack, Blumenthal, Grohn, Burgtann, Bremerhaven, Oldenburg, Varel, Osnabrück, Emden, Borssum, Delmenhorst, Achim."... (2)

Die weiteren Konsequenzen des Verbotes blieben aber allenfalls begrenzt. Am 3. August 1930 kam es in Emden anlässlich einer großen Demonstration zu einer Machtprobe zwischen den Ordnungskräften und den Rot-Front-Kämpfern:

„...Im Zuge marschierte eine Hundertschaft RFB in voller Uniform. Hin- und zurück war die Polizei nicht vertreten, dafür beim Hauptaufmarsch preußische Verschärfung. (...) Die Spitze des Zuges hatten die Holländer, dann Bremen, ihnen folgte die Hundertschaft des RFB in voller Uniform.

Im Sommer desselben Jahres findet in dem ehemaligen Kinderheim „Barkenhof" in Worpswede unter strengster Geheimhaltung ein militärpolitischer Kursus statt, in dem vor allem die politische Arbeit in gegnerischen Organisationen behandelt werden soll. Die Konspirativität geht soweit, dass etliche Teilnehmer bis zum Beginn des Seminars nicht wissen, wozu sie überhaupt gekommen sind. „...Wir mussten dann unsere Taschen leeren und wenn ich nicht irre, wurden diese Sachen von unserem Nebenmann durchgesehen. Niemand durfte Material bei sich haben, das Rückschlüsse über unsere Zugehörigkeit zu einer revolutionären Organisation zugelassen hätte..." (5a)

50-60 Teilnehmer, darunter auch mindestens vier aus Emden, hören Ausführungen zum Thema der Tagung "Die Arbeit unter der Polizei und der Reichswehr". Dabei dürfen keinerlei Aufzeichnungen gemacht werden.

Der „Lehrer" fordert die Anwesenden auf, Polizei und Reichswehr mehr Beachtung zu schenken und beide Staatsorgane gezielt und mit System zu unterwandern. Familienmitglieder in den genannten Verbänden sollten angesprochen und eingespannt werden. ,,Gute Kommunistinnen" könnten zum Beispiel mit Polizisten poussieren und diese dann aushorchen oder beeinflussen. Auch die NSdAP wäre so besser zu überwachen, der Lehrer nennt Beispiele aus Berlin, wo die Partei gezielt junge, weibliche Parteimitglieder zu Stenotypistinnen ausbilden ließ und sie anschließend in Büros der Nazis einsetzte. (5b)

Ähnliche Kurse behandeln durchaus auch kampftaktische Fragen, wie zum Beispiel die Unschädlichmachung eingesetzter gegnerischer Panzerwagen durch Aufreißen der Straßenpflaster vor und hinter den Fahrzeugen, regelrechte Übungen an Handfeuerwaffen werden selbst in den bezirklichen kleineren Ortsgruppen durchgeführt.

Oktober/November 1932 hat der ganze RFB-Gau Nordwest etwa 400 zahlende Mitglieder, davon alleine 200 in Emden und Ostfriesland. Monatlich werden 60-80 RM eingenommen. Der Beitrag ist inzwischen um die Hälfte gesenkt worden, weil kaum einer der Genossen noch Geld für die politischen Organisationen übrig hat. Aus Sicherheitsgründen werden die ausgegebenen Beitragsmarken sofort nach Empfang von den Zahlern vernichtet. Untereinander wird nicht mehr von Mitgliedern des RFB gesprochen, sondern man nennt sich nur noch „Bund der Freund", die „Freunde". (4)

Gleichzeitig wird auf Bezirksebene der RFB weiter organisiert, werden bewaffnete Geländeübungen abgehalten und vor allem versucht, die Aufrüstung voranzutreiben. Das hat natürlich Konsequenzen, weil bei der Größe der Organisation naturgemäß auch Fehler in der Geheimhaltung gemacht werden.

Ein Stein kommt ins Rollen...

Abschriften der ,,Zettel":

,,Emden, den 22. August 1932. Ab heute sind die besten befähigsten Gefreiten und Unteroffiziere zu einem besonderen Führerkursus zusammengefasst worden, es sollen in der nächsten Zeit Zeitfreiwillige eingestellt werden, die sich hauptsächlich aus der SA., SS. und dem Stahlhelm zusammensetzen sollen, wann diese eingestellt werden, bekomme ich sofort Bescheid. Der Gegnerobmann." (Z/C 11 306 Bd. 1 Blatt 106)

„...Am 22. geht die I. Komp. am Mittwoch die II. Komp. der VI. Marine-Artl. Abtl. nach Borkum, um die neuen 15cm Langrohrgeschütze einzuschießen. Diese Geschütze schießen bei 45 Grad 40 Kilometer, es sind die neuesten (?) Batterien davon stehen auf Borkum 2 Batterien, außerdem werden die neuen Tankabwehrgewehre probiert. Diese sind ähnlich wie ein MG gebaut die Munition liegt auf ein Stahlband ein Streifen ist 25 Schuss und soll durch jede Wand der bis jetzt bestehenden Tanks durchgehen, außerdem ist jetzt jeder 2. Mann mit Nebelhandgranaten ausgebildet. Diese sind etwas größer wie die Handgr. 4eckig und flach werden genauso abgezogen, aber in der Hand behalten es fliegt nur oben der Deckel weg und es entströmt ein Nebel von 3 m breite und 2 ½ m Höhe. Jedes ¼ Jahr werden 10 (16?unleserlich) Maschinistenmaate von hier nach Norderney abkommandiert zur Fliegerausbildung, die fahren in Zivil und fahren extra gekennzeichnete Flugzeug der Lufthansa, die stehen unter dem Kommando von Marineoffizieren."(Z/C 11 306 Bd. 1 107)

Anmerkung: Besonders der letzte Satz hätte einer strikten Geheimhaltung bedurft, war doch den Deutschen nach den Bestimmungen des Versailler Vertrages jede militärische Luftfahrt verboten

Die Herkunft der „Zettel" ist zunächst nicht genau auszumachen, weil Althoff einen bereits verstorbenen Genossen vorschiebt, von dem er die Unterlagen erhalten haben will. Doch schon bald wird den untersuchenden Beamten klar, dass die Informationen nur aus Emden selbst kommen können. Althoff ist der sogenannte „Gegnerobmann" in Bremen, eine Funktion, die die Beobachtung der potentiellen „Gegner" zur Aufgabe hat. Wohl von Spitzeln erfährt die Polizei auch, wer der „Gegnerobmann" in Emden sein könnte. Und so kommt eine Untersuchung in Gang, in deren Verlauf Zusammenhänge und Strukturen deutlich werden, die ein helleres Licht auf den RFB Emden werfen.

Dieter West*

Dringend verdächtig der „Gegnerobmann" des RFB an der Emsmündung zu sein ist der Genosse Dieter West. Der 34jährige gebürtige Emder wuchs in kleinen Verhältnissen auf. Er hatte die Volksschule besucht, dann als ungelernter Arbeiter gearbeitet, ist aber jetzt schon seit 4 Jahren - abgesehen von einigen Gelegenheitsarbeiten - erwerbslos. Er wohnt mit neun weiteren Familienangehörigen - darunter seine Schwestern Minna, Ursula und Anne sowie Bruder Hans* - im elterlichen Haushalt.

Am 23.12.1932 wird er vorläufig festgenommen und eine gründliche Durchsuchung des Wohnhauses in der Altstadt durchgeführt – wobei kurioserweise ein ziemlich offen liegender weiterer „blauer Zettel" mit militärischem Inhalt nicht gefunden wird... Anschließend kommt West zunächst einmal in Untersuchungshaft.

West ist kein Irgendwer in der Emder KP, er trat schon 1926 in die Partei ein. Den vernehmenden Beamten gegenüber stapelt er allerdings erst einmal tief und gibt als einzige Funktion den Posten eines „Landobmannes" in seiner Partei-Straßenzelle an. Ein „Landobmann" ist ein untergeordneter Mitarbeiter, der den Kontakt zur Landbevölkerung hält, nichts besonderes. Darüber hinaus streitet er jede Tätigkeit für den RFB ab.

Sehr wohl registriert die Polizei aber, dass kurz nach Wests Verhaftung Kommunisten vor seinem Zellenfenster am Gefängnis in der Gräfin-Anna-Straße eine Demonstration veranstalteten, bei der sie ihn laut mit „Rot Front" begrüßen und zum „Aushalten" und „Tapfer-Sein" auffordern. Und auch aus weiteren Spitzelberichten wird der Polizeibehörde Emden schnell klar, das West innerhalb der Ortsgruppe Emden der KPD die M.-Leitung (d. i. die militärische Leitung) inne hat.

Als dann noch ein Schriftsachverständiger die Handschrift des mit Blaustift geschriebenen „Zettels" mit der von West identisch erklärt, gibt der Gefangene sein striktes Leugnen auf. Jawohl, er habe den „Zettel geschrieben, aber nur auf Bitten eines ihm flüchtig bekannten Parteigenossen namens „Alfred", den er zufällig im Emder Parteibüro traf. Das habe er getan, ohne sich irgendetwas dabei zu denken...

Diese knappe Aussage empfindet der Untersuchungsbeamte denn doch als unglaubhaft bei Wests Position als M-Leiter, zumal der Absender des Zettels auf demselben offen als ,,Gegnerobmann in Emden" bezeichnet wird.

Anton Köhler*

Die Nachforschungen der Kripo im engeren Umfeld von West haben schon bald Erfolg, es gibt eine Spur auf die Nordseeinseln. Wests Schwester Anne hat nämlich ein Verhältnis mit einem gewissen Anton Köhler, der vor kurzem noch als Marinesoldat auf Borkum stationiert gewesen war.

Köhler – Spitzname „Bobbi" - wohnt mit Anne im Hause der Mutter unter einem Dach. Er kann kein guter Soldat gewesen sein, gerade erst (Ende 1932) war er wegen Mangel an militärischer Befähigung aus der Marine entlassen worden. Der Polizei war Köhler deshalb bekannt, weil er während des letzten Wahlkampfes Plakate für die KPD an den sogenannten „Chinesentempel" klebte. Eine Streife hatte ihm einfach die Leiter weggenommen und damit oben auf dem Pavillon gefangen.

Die „Rhein-Ems-Zeitung" vom 24.4.1932 dazu:

Zwei Plakatkleber der KPD festgenommen, die Plakate auf das Dach eines Verkaufshäuschens an der Boltentorbrücke klebten, Wahlplakate für die KPD. Die Männer wurden, da ihre Personalien nicht gleich feststellbar waren, verhaftet...

Und noch ein Militär ist bei Mutter West anzutreffen: „...eine andere, den gleichen Haushalt mit West teilende Schwester Ursula verkehrt seit Jahren mit dem Obergefreiten Hantel* von der VI. Marineart. Abt. in Emden, von dem sie ein Kind hat. Hantel soll nach einem Bericht der Polizeibehörde Emden von einem Fenster der Westschen Wohnung aus mit erhobener geballter Faust einen kommunistischen Umzug begrüßt haben..."(6b)

So sind zwei weitere Personen in Verdacht geraten, und während sich eine Beteiligung des Obergefreiten nicht bestätigen lässt, kommt der Ex-Mariner Köhler immer deutlicher ins Fadenkreuz. Am 29.1.33 gibt West zu, die Informationen über Borkum tatsächlich von Köhler erhalten zu haben. Er hätte im Sommer 32 aber nur rein zufällig mit dem „Verlobten" seiner Schwester über diese Themen gesprochen, und erst, als er zwei Tage später im Parteibüro dieses Gespräch erwähnte, forderte ihn der schon genannte „Alfred" auf, alles noch einmal schriftlich niederzulegen. Dagegen wäre er nie ,,M-Leiter" oder ,,Gegnerobmann" gewesen.

Immerhin gesteht West ein, dass "Alfred" ins Auge gefasst hatte, über Hantel und Köhler bei der Marine in Emden eine kommunistische Zelle zu bilden. Er, West, habe das jedoch abgelehnt. Zwar wollte Köhler seinerzeit durchaus in die Partei aufgenommen werden; ein Ansinnen, dem West aber nicht entsprach, weil ihm Köhler zu unbekannt war. Er forderte ihn jedoch auf, erneut militärische Dinge zu berichten, wie Mannschaftsstärken und Waffen in der Emder Kaserne. West legte dazu konkrete Fragen fest, und Köhler beantwortete diese auf einem weiteren Zettel. Das ganze wäre aber nur ein Test gewesen, um festzustellen, ob Köhler ein Spitzel sei. Denn alle Antworten lagen West schon vor.

Für die Kriminalpolizei ist klar, dass West „... (...) versucht hat, den (Köhler) vollständig zu schonen. In dem gegen Dieter West selbst gerichteten Verfahren hat dieser keine den (Köhler) irgendwie belastenden Angaben gemacht. Er hat im Gegenteil in der erkenntlichen Absicht, den Angeschuldigten zu schonen, seinerzeit eine völlig unwahrscheinliche Darstellung über das Zustandekommen des bei Althoff in Bremen beschlagnahmten Zettels gegeben." (7)

Und trotzdem Köhler von der Kriminalpolizei sehr oft in Begleitung von Kommunisten gesehen worden ist und stark in Verdacht steht, sich politisch im Sinne der KPD zu betätigen, wird er aus Mangel an Beweisen nicht weiter behelligt. Ein Zeitaufschub – mehr nicht.

Denn inzwischen verändert sich die politische Lage innerhalb Deutschlands dramatisch.

Die Faschisten an der Macht

Am 30. Januar 1933 um kurz nach elf Uhr ernennt Reichspräsident von Hindenburg Adolf Hitler zum Reichskanzler. Am 27. Februar brennt der Reichstag, am ersten März verschärft eine 2. Notverordnung Hitlers die Bestimmungen u.a. bei Landesverrat. Und gegen Ende des 5. März 1933, dem Tage der Reichstagswahlen, notiert Goebbels: „Wir sind die Herren im Reich und in Preußen, alle anderen sind geschlagen und zu Boden gesunken. (...) Deutschland ist erwacht."

Das bedeutet nichts Gutes für all jene, die sich augenblicklich in schwebenden Verfahren wegen der Betätigung in linken Vereinigungen befinden und vor allem in diesem Zusammenhang in Spionageverdacht stehen. West sitzt nun schon seit etwa einem halben Jahr in Untersuchungshaft und läuft immer mehr Gefahr, dass die neuen Herren im Reich kurzen Prozess mit ihm machen. Noch schweigt er.

Köhler versucht auf ganz andere Art einer möglichen Bedrohung zuvorzukommen. Er dient sich der Polizei als Spitzel an - vielleicht auch auf Anweisung der Partei. Denn der ihn anhörende Kriminalbeamte Koers ist misstrauisch:

„...Köhler erschien im Mai 1933, nachdem verschiedene Kommunisten festgenommen waren, ohne jegliche Veranlassung hier auf dem Kriminalbüro und erklärte, dass er wohl etwas angeben könne. Da aber Köhler kein Vertrauen besaß, wurde er mit ein paar Worten vorläufig abgewiesen. Köhler erschien aber immer wieder und brachte Sachen vor, die der Kriminalpolizei bereits bekannt waren. (...) Köhler wurde abgewiesen. Jetzt erklärte Köhler, dass er wisse, wo die Emder ihre Waffen usw. versteckt hätten. Er brachte dann auch eine Zeichnung. Aufgrund dieser Zeichnung wurde eine Grabung auf dem von Köhler angegebenen Gelände vorgenommen. Gefunden wurde jedoch nichts. Köhler behauptete, dann hätten die Kommunisten die Waffen pp. schon anderweitig untergebracht. Ich habe Köhler hierauf gesagt, dass er von mir 50 RM bekommen würde, wenn er den Nachweis über den Verbleib der Waffen bringen würde. Köhler erschien dann verschiedentlich auf dem Büro und machte verschiedene Angaben über die Tätigkeit der KPD. Es waren aber fast immer Sachen, die hier bereits bekannt waren. Ich habe dem Köhler keine Zweifel darüber gelassen, dass seine Angaben nicht stichhaltig seien. (...)." (8)

Die „Rhein-Ems-Zeitung" vom 4. Mai 1933 berichtet in diesem Zusammenhang:

In den Vormittagsstunden nahm die hiesige Polizei, unterstützt durch 40 Hilfsbeamte der SA und des Stahlhelm, insgesamt etwa 65 Polizeibeamte, eine gründliche Durchsuchung auf Transvaal vor. Das ganze Gelände von Deich Nesserland-Larrelt her bis zum halben Wege nach Port Arthur einschließlich der Baracken im Polder, wurde abgeriegelt. In den vier Straßen waren Beobachtungsposten ausgestellt und ebenso in den Gärten Bewachung eingerichtet, sodass niemand ungesehen fortgehen oder etwas verstecken konnte. Die etwa 225 Wohnungen auf Transvaal wurden von Durchsuchungskommandos systematisch durchsucht. Eine Abteilung begann unweit der Häuser zu graben, da dort Waffen vermutet wurden. Die ganze Aktion dauerte, da sie tadellos organisiert war, nur etwa zwei Stunden.

Sie hatte den Erfolg, dass bei dem Arbeiter S. in einer Kassette 1400 Mark beschlagnahmt werden konnten, von denen man annimmt, dass es sich um Gelder russischen Ursprungs für die Rote Marine handelt. Eine Mütze der Roten Marine und eine rote Fahne sind ebenfalls beschlagnahmt worden."...

Anmerkung: Die Waffen wurden nie gefunden. Sie sollen immer noch dort lagern, wo sie Anfang 1933 versteckt wurden...

Köhler aber gibt nicht auf. Wenn es denn schon nicht die Kripo ist, kann er vielleicht bei der SA unterkommen und hier tätig werden – für wen oder warum, bleibt wiederum unbekannt. Er wohnt jedenfalls immer noch bei den Wests und versucht Dieters Bruder Hans zu überreden, mit ihm in die Nazitruppe einzutreten: „...Es wurde uns aber gesagt, dass wir zuerst der NSBO (NSBetriebszellenorganisation/Nazi-Arbeiterorganisation /W.) beizutreten hätten, und dann nach einem Jahr könnten wir in die SA aufgenommen werden." Klar, dass die Nazis jetzt, nachdem sie alle Macht in den Händen haben, keine „Märzgefallenen" brauchen.

Köhler bleibt nichts anderes übrig, als dem „Rat" zu folgen. Im Juni 1933 geht er (möglicherweise auch gezwungenermaßen) in das Arbeitsdienstlager „Karlshof" bei Ocholt, wo er 7-8 Wochen „Moor kultivierte", danach kommt er in das Lager „Fintlandsmoor".

Inzwischen haben Kripo und Staatsanwaltschaft die Angelegenheit West soweit abgeschlossen, dass im August in Leipzig der Prozess gegen ihn und Althoff beginnen kann. Am 29.8.33 wird West zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Das Gericht hat entsprechend den Vorstellungen der neuen Machthaber im Reich ein hartes Urteil gefällt. Insgesamt scheint die ganze Geschichte damit abgeschlossen und könnte zu den Akten gelegt werden...

Da wird Wests Familie aktiv.

Die Mutter ist entsetzt über das Urteil, und auch die Schwestern entscheiden sich endlich, ihrem Bruder zu helfen.

Nur wenige Tage nach der Urteilsverkündung erscheint Minna West auf der Polizeiwache in Emden und macht eine umfangreiche, Köhler schwer belastende Aussage. Neben den schon bekannten Details berichtet sie über genaue Einzelheiten der Beziehung ihres Bruders zu „Bobbi", vor allem erwähnt sie einen Plan des Ex-Mariners, eine Waffenkammer in der Emder Kaserne zu überfallen, um den RFB mit Gewehren und Munition zu versorgen. Überhaupt hätte Köhler immer mal wieder versucht, an Schusswaffen aus Beständen der Marine heranzukommen. Ihre Schwester Anne könnte bestimmt noch mehr darüber berichten...

Das ist starker Tobak. Neben diesen an sich schon hochbrisanten Angaben gibt Minna weitere zu Protokoll, die – wenn sie stimmen – ausreichen sollten, um Köhler wirklich hinter Gitter zu bringen.

„...Köhler war auch im Besitz einer Armeepistole. Eine zweite Armeepistole hat Köhler dem Kommunisten Kohl* (gegeben). Köhler hat mir auch erzählt, dass Handgranaten nach Emden gekommen seien und zwar als Modewaren. Er selbst hat die Handgranaten ausgepackt. Er hat mir aber nie gesagt, wo die Handgranaten untergebracht, bezw. wer der Empfänger dieser Handgranaten war. Köhler hat immer nur mit Werno zusammengearbeitet..." (9) Die Kiste „Modewaren" mit den Handgranaten wäre noch vor März 1933 angekommen.

Damit ist klar, Köhler ist nicht nur stark beschuldigt, er ist auch hochverdächtig innerhalb des RFB und der KPD eine wesentliche Rolle im militärischen Bereich inne gehabt zu haben. Sofort (am 5.9.1933) erteilt Koers den Auftrag, Köhler festzunehmen, wo immer der auch sei. Und schon einen Tag später kann er melden, dass „...Köhler (...) heute 14 Uhr auf dem Arbeitsdienstlager ,Findlandsmeer' bei Apen ermittelt (und) durch den zuständigen Beamten, Gendarmeriekommissar Hartmann, Apen, festgenommen und mir übergeben (wurde). Köhler ist hierauf in Schutzhaft genommen." (10)

Am 8. September wird Köhler zum ersten mal zur Sache vernommen. Rundheraus streitet er alle Anschuldigungen ab. Er betrachtet die ganze Angelegenheit als eine einfache Racheaktion der Minna, die selbst wegen ihrer Männergeschichten einen schlechten Ruf hätte. Darüber hinaus wäre er in Cuxhaven von 1929-31 Mitglied im „Jungstahlhelm" gewesen und kein Kommunist. Basta. Aber - na ja, er gibt dann doch zu, von einem Mann namens Theuren* einmal eine Armeepistole erhalten zu haben, die er gegen ein Radiogerät eingetauscht hat. Mehr sei da nicht gewesen!

Jetzt aber lässt sich die einmal in Gang gekommene Untersuchung nicht mehr aufhalten. Koers hat die Namen weiterer Verdächtiger, die er alle der Reihe nach vorladen lassen will. Zunächst einmal verhört er ein weiteres Mal den immer noch im Untersuchungsgefängnis des Polizeipräsidiums Leipzig einsitzenden Dieter West. Und nun, nach der offiziellen Anzeige Köhlers durch seine Schwester, bricht auch der sein Schweigen und redet:

"... Als Köhler einige Tage später mal bei uns in der Wohnung war, fing er selbst davon an, dass es für die Kommunisten ein Leichtes sei, die in der Kaserne liegende Munition an sich zu bringen. Er erzählte, dass die Munition, und zwar Handgranaten, Pistolenmunition und viereckige Dosen mit Sprengstoff in einem Schuppen hinten in der Kaserne lagerten, und dass man von den Weiden aus leicht an diesen Schuppen herankommen könne; wir sollten dies im Januar machen, da im Januar die beiden Kompanien wieder nach Borkum gingen und weil dann nur wenig Leute in Emden zurück blieben. Köhler sagte, dass in dieser Zeit der Schuppen nicht ständig bewacht sei, sondern dass nur alle zwei Stunden ein Posten durchkäme; der Schuppen sei nur mit einem kleinen Schloss versehen, das man ohne Schwierigkeiten aufbrechen könnte. Köhler sprach auch davon, dass man leicht in die Waffenkammer hineinkommen könne, er wisse in dieser Kammer gut Bescheid, da er dort Fenster angestrichen hätte. Er sprach davon, dass in dieser Waffenkammer ungefähr 450 Pistolen und etwa hundert Gewehre liegen sollten..." (11)

Köhler wollte bei dem Einbruch selbst mitmachen, man könne dem Posten vor dem Munitionslager leicht eine vor den „Knast hauen". West aber will die Aktion für zu gefährlich gehalten und den Plan nicht einmal in der Partei erwähnt haben.

Schreiben des Kommandos der Marine-Art. Abt. VI Emden, den 1.2.34

„... Die Munition wird in einem Munitionshaus - aus Sicherheitsgründen abseits der Kaserne -, aufbewahrt, welches mit einem abgeschlossenen Zaun umgeben ist. Der einzige Eingang in das Haus wird durch zwei hintereinanderliegende starke Türen verschlossen, die mit je einem Türschloss und je einem Vorhängeschloss gesichert werden. Diese vier Schlösser sind voneinander verschieden. Da zudem ein Patrouillier-Posten mit unregelmäßigen Kontrollgängen das Gelände sichert, ist ein unbemerkter Einbruch nicht möglich Die Waffenkammer liegt innerhalb des bewachten Kasernengeländes, hat eben falls eine doppelt verschlossene Tür und vergitterte Fenster. In der Nacht wird das Gelände auch innerhalb der ummauerten Kasernenanlagen von einem Posten beschritten, dem ein Eindringen in das Gelände und ein Einbruch in die Waffenkammer nicht entgehen könnte. Hiesigen Erachtens zeugen die Aussagen des Köhler von einer oberflächlichen Kenntnis der örtlichen Verhältnisse und beweisen, dass Köhler die Schwierigkeiten, die seine aufgrund nicht eingehender Beobachtung der Örtlichkeiten gefassten Pläne unausführbar machen müssten, nicht erkannt hat." (12)

Im Grunde reicht diese Aussage Wests, um Köhler dingfest zu machen. Dennoch will Koers auch die übrigen Verdächtigen hören: Den Zimmermann Kohl, den Matrosen Theuren und dazu Bruder Hans West. Bei den beiden letzteren hat er Pech, die sind auf See, Theuren auf einem Logger und West auf einem Dampfer nach Afrika. Und der ominöse Werno ist bereits auf der Flucht, er wird von der Kripo wegen Einbruchdiebstahls gesucht.

Mit dem Namen Werno gewinnt der Vorgang allerdings eine neue Dimension. Koers als in Emden tätigem Untersuchungsbeamten ist Heinrich Werno möglicherweise noch nicht wirklich bekannt. Da sich die Ereignisse, Verhaftungen und Vernehmungen in den verschiedenen Fällen überschneiden, kann es sein, dass Wernos Bedeutung für die KP in der Seehafenstadt bis zu dieser Zeit zumindest für die hiesige Polizei nicht klar ist.

Winter

Denn von Werno führt eine direkte Verbindung zu einer weiteren Person, dem Bremer Heinrich Winter.

Winter war in doppelter Hinsicht eine zentrale Figur im Aufbau des RFB-Bezirkes Nordwest:

„Im Herbst 1931 wurde er vom damaligen Bezirksvorsitzenden zum Gauleiter des RFB Nordwest bestimmt, eine Funktion, die er bis zu seiner Verhaftung am 13.4.1933 inne hatte. Nach drei Wochen Schutzhaft wurde er dann am 6. oder 7.5.1933 wieder freigelassen, ‚... weil ich (Winter/W.) mich der Polizei erboten hatte, gewisses Material beizubringen. Ich bin dann aber ausgerückt und habe mich ungefähr zwei Monate an verschiedenen Orten in Ostfriesland aufgehalten und bin ungefähr Anfang oder Mitte Juli 1933 über die Grenze nach Holland gegangen. In Holland wurde ich von der Roten Hilfe untergebracht und versorgt, wurde aber nach vier oder fünf Wochen von dieser Organisation fallengelassen, weil ich es abgelehnt hatte, nach Deutschland zurück und nach Gelsenkirchen zu gehen, um dort für die KPD zu arbeiten. Seit Ende August 1933 war ich mittellos und habe von Gelegenheitsarbeiten und gelegentlichen Unterstützungen gelebt. Anfang November 1933 wurde ich von der holländischen Kripo auf der Strasse aufgegriffen und nach Deutschland abgeschoben, und zwar wurde ich der deutschen Polizei in Gronau ausgeliefert...' " (13)

Von Gronau aus kommt der Gefangene zurück nach Bremen.

Winter wird schnell klar, dass härteste Verhöre und vor allem eine lange Haft auf ihn zukommen. Um sich selbst zu retten, schließt er einen Pakt mit den Nazis. Eigentlich hätte er „...schon seit Monaten über sein Verhältnis zum NS-Staat und dessen Leistungen nachgedacht und seine politische Meinung geändert.(...) Aus diesem Grunde wolle er nun der Polizei helfen, um die deutschen Arbeiter vor den falschen Thesen der Kommunisten zu schützen."(14)

Gegen die Zusage einer möglichst weiten Verschonung wird er zum Verräter unzähliger Menschen und auch nicht weniger Freunde:

„...Im Herbst 1932 bin ich des öfteren in meiner Eigenschaft als Gauleiter des RFB in Ostfriesland und auch in Emden gewesen. Diese Reisen habe ich unternommen, um mit den örtlichen Leitern Fragen über den RFB zu besprechen. Teils bin ich mit der Bahn und teils mit dem Motorrad gefahren. (...) In Emden habe ich einmal von dem dortigen Leiter des RFB, Heinrich Werno, einen Brief erhalten, den ich in Bremen an den Parteizersetzungsmann abgeben sollte. Wann dies gewesen ist, kann ich nicht mehr genau sagen. Es kann im September gewesen sein. Über den Inhalt des Briefs kann ich nichts Genaues sagen, da Werno mir denselben in verschlossenem Umschlag übergeben hat. Allerdings hat Werno mir Gesprächsweise angedeutet, dass in dem Briefe Aufzeichnungen über die Bestückung der Insel Borkum mit Artillerie enthalten seien. Gesehen habe ich diese Aufzeichnungen niemals. Ich habe den Brief nur mitgenommen, um dem Werno einen Gefallen zu tun.'" (...) (15)

Winter legte Anfang Dezember gegenüber der Nazipolizei ein umfassendes Geständnis ab und wurde prompt noch im selben Monat entlassen.

Werno

Als Pol.-Leiter (politischer Leiter) sollte Werno im Auftrage Winters den RFB regional wieder aufbauen. Im ganzen Unterbezirk Emden, zu dem auch Moordorf und verschiedene Fehne gehörten, setzte Winter weitere Führungskräfte ein, die aber letztlich wiederum Werno unterstanden. Wie bereits erwähnt, befanden sich die Rotfront-Kämpfer um den Jahreswechsel 1931/32 in einer Art organisatorischer und auch politischer Konfusion, die vor allem wohl aus der Einsicht einer Art Hilflosigkeit gegenüber den wachsenden Kräften der Faschisten herrührte.

Alle haben im Prinzip die gleichen Probleme: Mangel an Geld, an Propagandamaterial und vor allem an Waffen, ohne die selbst ein Schutz auch nur der eigenen auftretenden Politiker in ihren Veranstaltungen unmöglich scheint – geschweige denn eine erfolgreiche Revolte. Zwar kommt sogar technisch höherwertiges Kriegsgerät nach Emden hinein (siehe die Handgranaten) und werden immer mal wieder kleinere Mengen Schusswaffen über den Hafen von Seeleuten eingeschmuggelt, aber für eine planmäßig aufgebaute militärische Struktur ist das alles viel zu wenig.

"...Diese Waffen schmuggelte er (Jagla) bei der Rückreise nach Emden nebst zwei komm. Schriften, die er im 'Internationalen Club' gekauft hatte, ein und nahm sie, als er am 30.9.33 von der ‚Monsun' abmusterte, mit an Land.(...)Die Waffen, die, wie er selbst zunächst angegeben hatte, für die KP Verwendung finden sollten, behielt er, (...)zunächst bei sich...(...)...Ihr weiterer Verbleib ist nicht festzustellen." (16)

Das Einschmuggeln kleinkalibriger Waffen war nichts Ungewöhnliches, Zoll und Polizei wussten darum, dass mancher Seemann sich einen kleinen Zusatzverdienst mit Waffenhandel erwirtschaftete. Nicht nur aus politischen Gründen...

Die Nazis sind in diesem Punkt schon viel weiter. Obwohl auch ihre Kampforganisationen Mitte April 1932 (nur vorübergehend!) aufgelöst werden, finden die Behörden bei Durchsuchungen Dokumente, aus denen hervorgeht, „...dass Ostfriesland militärisch restlos durchorganisiert sei." (REZ vom 15.4.32)

Werno geht deshalb eigene Wege. Zusammen mit West beschafft er eine Schreibmaschine aus den Beständen der Emder Hochseefischerei, soll heißen, er bricht schlicht in die Büroräume ein und klaut sie. Nachdem das gut geklappt hat erfolgt kurze Zeit später ein erneuter Raubzug, diesmal dringen Männer ausgerechnet bei der Hafenpolizei ein und erbeuten sechs Pistolen. Werno ist mit Sicherheit an diesem Bruch beteiligt, wenn er auch später angibt, die Schusswaffen von einem Unbekannten gegen 40 Reichsmark erhalten zu haben.

Die Rhein-Ems-Zeitung Nr. 45 vom 23.2.1933 schreibt dazu in aller Kürze:

Einbruch in ein Dienstgebäude.

In der vergangenen Nacht wurde in ein staatliches Dienstgebäude eingebrochen. Den Dieben sind außer etwas Geld auch einige Pistolen in die Hände gefallen. Die Kripo hat die Ermittlungen nach den Dieben aufgenommen."

Schamvoll umschreibt der Polizeibericht den eigentlichen Ort des Einbruchs: ein Gebäude der Wasserschutzpolizei im Hafen...

Aber trotz aller Bemühungen ist es nicht möglich, ausreichende Kampfmittel zu beschaffen. Inzwischen hinkt die ganze Bewegung sowieso der Entwicklung im Reich hinterher.

Die „Häuserschutzstaffeln"

Im November 1932 wird eine letzte verzweifelte Anstrengung unternommen, um wenigstens den Schutz der eigenen Genossen und Sympathisanten in ihren Wohnvierteln zu gewährleisten, der Versuch des Aufbaus eines sogenannten „Roten Massenselbstschutzes". Im Grunde nichts anderes als der RFB will diese neue Organisation auch Nichtkommunisten, linke Kräfte aus anderen Parteien und Verbänden gegen die drohende Überwältigung durch die Nazis zusammenfassen. Ein weiteres Mal werden die RFBler unter Werno ostfrieslandweit aktiv, sie bilden „Häuserschutzstaffeln" in den Arbeiterbezirken und entwickeln mit ihren spärlichen Mitteln einen Propagandaapparat, der sich dem Einfluss der braunen Truppen entgegenstellt.

Selbst Köhler ist Mitglied dieser neuen Gruppierung - allerdings ein skeptisches. Werno, der nicht mehr genau wissen will, in welcher Funktion er tätig war, sagt dazu aus:

„Erst im Januar 1933, als die Häuserschutzstaffeln gebildet wurden, die dem RFB angegliedert waren, hörte ich von dem Bruder des damals bereits verhafteten Dieter West, dass Köhler zu einer solchen Häuserschutzstaffel im Stadtteil West gehöre. Auch zu dieser Zeit habe ich keine nähere Verbindung mit Köhler gehabt. Die Häuserschutzstaffeln waren zwar getarnte Teile des RFB und unterstanden als solche mir als dem Pol.-Leiter des RFB, ich bin aber nur selten zu den einzelnen Abteilungen gekommen und kann deshalb auch nicht mit Bestimmtheit sagen, was für eine Funktion Köhler damals gehabt hat. Einmal hieß es, dass er Zugführer sei, ein ander mal wurde gesagt, dass er Gruppenführer sei, und wieder Andere sagten, dass er technischer Leiter sei, d.h. also, dass er die Übungen der Häuserschutzstaffeln leitete. Ich kann mich erinnern, dass ungefähr im Februar 33 der damalige Agitprop-Leiter des RFB (...) mir gesagt hat, dass im Stadtteil (Emden-)West von (...) Köhler eine Sitzung der Häuserschutzstaffel einberufen worden sei, zu der ich auch kommen sollte. Ich bin auch zu dieser Sitzung zu der mir angegebenen Zeit hingegangen, traf aber nur (...) Köhler an. (...).Am nächsten Tag erzählte mir der Bruder des Dieter West, der damals Leiter des Spielmannszuges der kommunistischen Jugend war, dass Köhler gesagt habe, er würde nicht eher mit der Arbeit der Häuserschutzstaffeln beginnen, ehe nicht jeder von den Mitgliedern eine Waffe hätte..." (17)

Viele in den linken Organisationen mögen ähnlich gedacht und unter den gegebenen Umständen gewaltbereiten Widerstand als sinnlos angesehen haben. Die Scharmützel einzelner Kommunisten und Sozialdemokraten mit den Faschisten sind zwar immer noch als kleine Spaltenmeldung in den Tageszeitungen zu finden, aber von einer wirklichen Anti-Hitler-Bewegung ist nicht viel zu spüren.

Es gibt auch Erfolge, vor allem in den ländlichen Gebieten gegen Ende 1932:

„...Der rote Massenselbstschutz trat in sechs Fällen in Aktion, um den Angriff der SA-Banden abzuwehren. Er trat zweimal in Aktion bei Verhinderungen von Zwangsversteigerungen in Scharrel und Ramsloh. In einem Falle war die Aktion gegen eine Zwangsversteigerung bei einem Kleinbauern in Burlage unter der roten Sensenfahne durchgeführt. In den drei letzten Aktionen war der Erfolg 100%. 180-200 Mann beteiligten sich an diesen Aktionen (40% SPD-Arbeiter, 30% Parteigenossen und der Rest Parteilose)."... (18)

Dennoch bleibt der RFB in Emden und Umgebung aktiv. ätter rufen zum Kampf auf, den schwierigen Tagen nach der Machtergreifung Hitlers erhält Werno sogar Verstärkung durch einen Instrukteur aus Bremen, den Untergauleiter Neumann. Werno bringt diesen Instrukteur mit den verschiedenen Ortsgruppen des RFB im ganzen Unterbezirk zusammen.

Etwa zur gleichen Zeit (im Mai) kommt auch Winter auf seiner Flucht (s.o.) nach Ostfriesland. Werno findet für ihn einen Unterschlupf in Moordorf. Die Menschen dort nehmen Winter bereitwillig auf und verstecken den Mann, der immerhin der Leiter des Kampfbundes im ganzen Bezirk Bremen-Nordwest ist, unter eigener Lebensgefahr.

Werno und Winter entwickeln zusammen eine rege Tätigkeit. Sie entwerfen Artikel und Beiträge, fertigen Zeitungen mit dem Titel ,,Rot Front - Organ des RFB - Untergau Emden" an und verbreiten sie bei den Ortsgruppen, die die Schriften in den Städten und Dörfern weiterverteilen.

Papier und Wachsbögen hatten Neumann und Wernos Frau besorgt, die Schreibwaren konnten in Emden noch ganz legal gekauft werden. Denn selbst die Beschaffung simpelster Materialien war in diesen Zeiten eine Schwierigkeit, weil die Faschisten schon bald ein Auge auf alles warfen, was zum Beispiel zur Herstellung von Flugblättern verwendet werden konnte. Wer in größeren Mengen Schreibpapier und/oder Vervielfältigungsmittel erwerben wollte, war verdächtig!

Frau Werno erhält am Bahnhof West von einem Unbekannten zusätzlich eine Schreibmaschine, die, zusammen mit der in Emden bei der Hochseefischerei gestohlenen, zur Herstellung der Zeitung benutzt werden soll. Selbst ein Abziehgerät steht den Moordorfern noch zur Verfügung, und in den kommenden Wochen werden mit diesen Hilfsmitteln weitere einfache, aber politisch brisante Schriften und Handzettel erstellt und verteilt.

Das Ende

Langsam gerät Werno immer mehr unter Druck. Die Suche nach ihm läuft auf Hochtouren.

Am 11.6.1933 meldet die „Rhein-Ems-Zeitung":

"Erfolgreiche Arbeit unserer Kriminalpolizei.

Nach langen und schwierigen Ermittlungen ist es der Emder Kriminalpolizei gelungen, neun Funktionäre der hiesigen KPD hinter Schloss und Riegel zu bringen, die in der letzten Zeit die Bevölkerung wiederholt beunruhigt haben. Es handelt sich um die Verbreiter der illegalen Druckschriften, die nicht allein in Emden, sondern in ganz Ostfriesland verteilt wurden und zum Aufruhr und zu Gewalttätigkeiten gegen Personen und Sachen aufreizten und außerdem geeignet waren, das Ansehen im öffentlichen Leben stehender Personen herabzusetzen. Weiter konnten die Leute überführt werden, an den Einbrüchen in ein staatliches Gebäude, aus dem Pistolen und Munition entwendet und aus einem Lager an der Sleedrieverstraße, aus dem ein nicht geringer Geldbetrag gestohlen war, beteiligt zu sein. Die neun Täter sind vorerst dem Haftrichter vorgeführt, der zehnte Mann, der Maschinist Heinrich Werno, geboren am 16. September 1898 zu Metz, und einer der Hauptbeteiligten hat sich seiner Festnahme durch die Flucht entzogen..."

Der ostfriesische Boden wird Werno heiß und heißer, aber er hält dem Fahndungsdruck stand. Er pendelt ständig zwischen Bremen und Moordorf hin und her. Anfang Juli hilft er noch Winter bei Neuschanz über die Grenze nach Holland und fährt im August zusammen mit dem technischen Gauleiter des RFB per Fahrrad den ganzen Bezirk ab. Die Zwei besuchen jede einzelne Ortsgruppe, um ein letztes mal die Kräfte neu zu organisieren. Dann verlässt Werno endgültig die Region.

Damit verlieren sich die Spuren des RFB in Emden. Wohl werden im Zusammenhang mit den Rotfrontkämpfern hier und da noch einmal Namen genannt, aber konkrete Aktionen oder Wiederbelebungsversuche scheint es nicht mehr gegeben zu haben. Das mag auch daran liegen, dass in der Hafenstadt und der weiteren Umgebung die in die Illegalität gedrängte KPD den Widerstand aufnimmt. Der RFB als Kampforganisation hatte sich überlebt, zumindest die „militärische" Auseinandersetzung war entschieden zugunsten der Nazis.

Nachtrag

In Moordorf hatte der Verrat des Winter schwerste Auswirkungen, weit über ein halbes Hundert Menschen wurden verhaftet, verurteilt und zum Teil in die KZs gesteckt. Ein Bericht dazu ist in Vorbereitung.

Werno ging den Häschern schließlich ebenfalls ins Netz, durch eine eigene Unvorsichtigkeit konnte er gegen Ende des Jahres 1932 zusammen mit seiner Frau in Koblenz festgenommen werden. Er kam anschließend in einem Straflager um.

West saß seine Zuchthausstrafe ab und überlebte Krieg und Naziterror.

Was letztlich aus Köhler wurde, ist unbekannt. Interessanterweise beharrte er auf seiner allgemeinen Unschuld und bezichtigte weiter die Familie West einer gezielten Racheaktion. In einem Exemplar der Anklageschrift befinden sich linksseitig einige mit Bleistift handschriftlich angefügte Bemerkungen, die offenbar von Köhler selbst stammen. Er hinterfragt hier die niedergelegten Aussagen der West-Familie und gibt so seine persönliche Meinung zu ihnen bekannt. Er besteht darauf, nicht wirklich Kommunist gewesen zu sein. Interessant die Bemerkung über sein Wirken in den Häuserschutzstaffeln: „...im Auftrage der Kripo oder der SA-Leitung"(19). Köhler wurde nach Absitzen einer mehrjährigen Zuchthausstrafe auf freien Fuß gesetzt. Er betrieb noch eine Weile seine Rehabilitierung, taucht dann aber in den (bis jetzt eingesehenen) Akten nicht mehr auf.

Heinrich Winter trat schon bald nach seinem Verrat in die Naziorganisationen ein. Auch sein weiteres Schicksal bleibt unbekannt.

Die Lebenswege der übrigen benannten Personen im Rahmen der RFB-Geschichte in und um Emden sind ebenfalls unaufgeklärt...

*Namen geändert

Quellen der Zitate / Akten Bundesarchiv Berlin:

1) Akte RY 1/1 3/17/14 Mappe 1926 Bl. 63ff.

2) Ebenda Mappe 1928 Bl. 151

3) Ebenda Mappe 1930 Bl. 182

4) Akte RY 1 I 3/17/39 Bl. 17

5) Akte ZC 11306 / Bd. 1 Bl. 177ff

6) Ebenda Bl. 24 (6b) ZC 11306 / Bd. 2 Bl. 25

7) Einlage ZC 11306 Urteil Köhler

8) Akte ZC 11306 Bd.1 Bl. 78

9) Ebenda Bl. 1

10) Ebenda Bl. 3

11) Ebenda Bl. 57

12) Ebenda Bl. 95

13) Ebenda Bl. 177 ff

14) Ebenda „

15) Ebenda Bl. 202/203

16) NJ 15462 Bd. 1 S.12/13

17) Akte ZC 11306 Bd.1 Bl. 131ff

18) Akte RY 1/1 3/17/14 Mappe 1932 Bl. 215

19) Einliegend Akte ZC 11306 / Bd. 2

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