Hans-Gerd
Wendt
Wer war "Harry"?
Die Verhaftungen
beginnen ganz plötzlich an jenem 29. Juli 1937. Als Erster wird
ein Dreher an seinem Arbeitsplatz auf Cassens Werft festgenommen und
abgeführt. Zwei Tage später verschwinden ein Bäcker,
ein arbeitsloser Kriegsinvalide und ein Kolonialwarenhändler. In
der darauffolgenden Woche verhaftet die Gestapo weitere fünfzehn
Hafenarbeiter und Seeleute. Dann geht es Schlag auf Schlag, es trifft
Arbeiterinnen in der Fischverarbeitung genauso wie Maurer, Klempner
und Netzmacher. In Larrelt kommt es zu Festnahmen, in Wirdum, in Leer.
Emder Seemänner schleppt man von ihren Schiffen herunter, sowie
die Dampfer deutsche Häfen anlaufen. Dutzende werden bis Ende des
Jahres abgeholt, eingesperrt und unter brutalsten Folterungen verhört.
Im Februar endlich, als die Verhaftungswelle zu Ende geht, haben die
Nazis über hundert Menschen in ihre Gewalt gebracht, und die meisten
von ihnen sind Emder.
Was war geschehen?
War in Emden ein Aufstand gegen Hitler vorbereitet worden, ohne dass
die Mehrzahl der Bürger es merkte? Tatsächlich gingen von
der Seehafenstadt einige Impulse aus zum Widerstand gegen den Faschismus,
bis weit in das deutsche Reich hinein. Ehemalige Sozialdemokraten und
Kommunisten hatten sich gefunden und unter der Leitung von August Wagner,
dem späteren Stadtverordneten, eine Widerstandsgruppe gebildet,
deren Fäden bis nach Skandinavien reichten. Auch über Holland
führten Verbindungen zu emigrierten Antifaschisten und Organisationen.
Es ist heute kaum bekannt, daß mancher Seemann, der diesem Kreis
angehörte, während der dreißiger Jahre neben seinem
ohnehin nicht leichten Beruf noch ein besonderes Risiko an Bord auf
sich nahm: Den Transport von Druckschriften in deutsche Häfen,
die die Wahrheit über den Terror der Hitlerdiktatur und die Kriegsvorbereitungen
berichteten.
Eine besondere
Beziehung bestand zu "Harry" in Stockholm. Ein Steward auf
der unter der Flagge einer Emder Reederei fahrenden "Johann Wessel"
hatte Anfang 1934 diesen vor den Nazis geflohenen Landsmann in der schwedischen
Hauptstadt kennengelernt. "Harry" hatte dem Emder vorgeschlagen,
eine regelmäßige Verbindung auch mit Hilfe anderer Schiffe
nach Ostfriesland einzurichten, um so ständig die Städte im
Hinterland mit verbotenen Schriften zu versorgen. Obwohl der Steward
wußte, daß ihn ein solcher Einsatz leicht das Leben kosten
konnte, willigte er ein. Und wirklich gelang es der Gruppe um Wagner,
auf Frachtern wie der Gottfried Bühren", der "Erika Fritzen",
der "Amerika" weitere Fahrensleute zu finden, die mit "Harry"
Kontakt aufnahmen, von ihm eingewiesen und versorgt wurden. Auch aus
Malmö und selbst Narvik in Norwegen kam nun politisches Material
in den Emder Hafen hinein.
Die Männer
auf den Schiffen und ihre Helfer an Land hatten dabei ständig die
Sicherheit der ganzen Gruppe zu beachten. Schon die Übergabe der
Packen mit dem gefährlichen Inhalt in den ausländischen Häfen
war nicht einfach. Unauffällig mußten sie an Bord gebracht
und sicher versteckt werden. Während der Überfahrt konnte
jedes unbedachte Wort Spitzeln zu Ohren kommen, die mitfuhren und trotz
der sprichwörtlichen Kameradschaft unter Seeleuten an die Gestapo
in der Heimat verrieten. Hatte das Schiff in Emden festgemacht, konnte
nur unter komplizierten Bedingungen die geheime Zusatzfracht von Bord
geholt und an Land zwischengelagert werden. Diese Aufgabe war Hafenarbeitern
oder manchmal auch Familienangehörigen übertragen. Alle mußten
sich gut im Hafen auskennen, durften nicht auffallen, wenn sie an den
Kais und Anlegern bereitstanden. Denn auch hier beobachteten viele Augen
die Vorgänge bei den Seeschiffen. Trotzdem gelang es über
Jahre, die mitgebrachten Schriften von den Dampfern herunter zu schmuggeln.
Wenn die Besucher gingen, waren Jacken, Hosen und manchmal sogar die
Strümpfe dick ausgestopft. Es kam nicht selten vor, daß solche
Kuriere zwei- oder dreimal anlaufen mußten, um alles fortzuschaffen.
Aber "Harry"
sorgte nicht nur für Zeitungen und Flugblätter. Er organisierte
ebenso Geldsammlungen in Stockholm, um für die Familien der in
den ersten Tagen nach der Machtübernahme Verhafteten Hilfe zu bringen.
Selbst dringend benötigte Babykleidung und andere Gebrauchsgüter
brachten die Seeleute mit, die sofort weitergeleitet wurden in das ganze
Ostfriesland. Die Literatur transportierten Binnenschiffe unter der
Ladung in das Innere Deutschlands weiter, sogar das Ruhrgebiet wurde
zeitweise auf diesem Wege versorgt. Manches ging aber auch von Hand
zu Hand in die Dörfer und Städte der näheren Umgebung.
Fast 3 1/2 Jahre
arbeiteten die mutigen Männer auf den Schiffen und im Emder Hafen,
unter ständiger Gefahr mit größter Vorsicht. Dann kam
der 29. Juli 1937. Einige haben die Verurteilungen und anschließenden
Haftzeiten nicht überlebt, viele kamen erst nach Ende des Krieges
aus den KZs zurück, nicht wenige innerlich gebrochen. Es ist heute
kaum noch nachvollziehbar, daß unsere Heimatstadt einmal eine
Drehscheibe für politische Aufklärungsschriften in Deutschland
war. Die Namen der Menschen im Widerstand kennt heute so gut wie keiner
mehr. Auch von "Harry" wissen wir nur den Decknamen. Wer "Harry"
wirklichen war, kann trotz intensiver Nachforschung bis jetzt niemand
sagen.
Den Opfern auf
Seiten der politischen Linken ist bis in unsere Tage wenig Aufmerksamkeit
geschenkt worden. Wenn sie auch manchmal falschen Vorstellungen anhingen
und ihre Mühen die Zerstörung der Stadt letztlich nicht verhindern
konnten - es ist an der Zeit, daß wir uns an sie erinnern. Die
"Ubbo-Emmius-Gesellschaft", die sich die Aufarbeitung des
Emder antifaschistischen Widerstandes zur Aufgabe gemacht hat, bittet
deshalb alle Bürger, die sich an entsprechende Geschehnisse zu
jener Zeit erinnern, mit ihren Mitarbeitern Kontakt aufzunehmen.