Bericht aus einem Aquarium


Wer die Arbeit in Archiven und Bibliotheken kennt, der weiß, dass es selbst bei der Bearbeitung eines spannenden Themas immer wieder Perioden des langweiligsten Durchblätterns scheinbar endloser Papiere gibt, die so interessant zu lesen sind wie ein Tidenkalender der letzten hundert Jahre. Man hat Mühe nicht einzuschlafen - und dann plötzlich taucht in dem Wust von Bagatellen das eine Schriftstück auf, das den Finder augenblicklich elektrisiert. Ein solches Dokument ist der folgende ganz private Brief von Otto Bösch an Adolf Lenze vom 25.05.1934:


,,Bester Adolf:

Ich glaube, Du wirst es mir nicht übel nehmen, dass ich erst mal etwas Geld schickte und das Briefeschreiben noch verschob. Ich hatte nämlich kein Geld mehr für Porto. Deine Freunde und Bekannten habe ich selbstverständlich alle gegrüßt und man war auch entzückt, aber---Tellersammlung? Soweit geht die Freundschaft nicht. Hein ist übrigens selbst im Bau. Und Hans ist schwerkrank in Hannover. Lotte zeigt zwar viel guten Willen, aber--- Du weißt ja! Und der Rest ist Schweigen.

Ich muss ab 1. Juni in ein Arbeitslager und werde versuchen, ab und zu ein paar Mark zu schicken. Wollen sehen. Nun will ich Dir zur Unterhaltung etwas über meine Aquariums-bewohner erzählen, es wird Dich bestimmt interessieren:

Im großen Gesellschaftsaquarium hatten sich alle Fische zu einer Art Gemeinwesen zusammengeschlossen. Die Führung dieser Gemeinde hatten einige Makropoden (Großflosser) inne. Du kennst ja diese bedächtig langsamen, schwerfälligen und verkalkten Spießer unter den Fischen. Du kannst Dir denken, dass unter ihrer Führung kein rechtes Leben im Aquarium war. Nun kamen vor einigen Wochen zwei Stichlinge dazu. Ein alter und ein Junger. Ihrem Temperament entsprechend versuchten sie etwas Leben in die Bude zu bringen. Das war aber den Makropoden zu unbequem. Kurz und gut, sie brachten es fertig, dass die beiden Stichlinge als Außenseiter behandelt wurden. Der alte gewöhnte sich bald daran und resignierte. Der junge boxte weiter. Da passierte es, dass ein Teil der dicksten Makropoden durch ihre dummdreiste Behäbigkeit der Heizröhre zu nahe kamen und die Flossen verbrannten. Da mussten sie natürlich mit dem Netz herausgeholt und isoliert werden.

Die führerlose Gemeinde unterstellte sich nun plötzlich freiwillig dem Kommando des jungen Stichlings (handschr. angefügt: Bösch selbst). Es war natürlich sofort ein ganz anderes Leben im gesamten Aquarium zu bemerken. So macht es mir erst richtig Spaß und ich kann stundenlang davor sitzen und zusehen. Nur schade, dass ich ein halbes Jahr in Arbeitsdienst muss. Aber ich gebe sie nur in gute Hände und hoffe sie noch alle gesund wiederzufinden, wenn ich zurückkomme. Rieka liegt immer noch im Krankenhaus. Ernst macht treu und brav jeden Tag einen zweistündigen Besuch. Auch von Lini sollst Du etwas hören: Erst war alles in bester Butter. Dann verbot ihr ihr Vater, mit mir zu gehen, weil ich im Gefängnis war.

Sie hatte nicht soviel Energie, sich gegen ihren Alten durchzusetzen und gab nach. Das hat mich ja eine zeitlang mutlos gemacht. Aber die angestrengte Arbeit der letzten Wochen hat mir darüber hinweggeholfen. Jetzt werde ich sie überhaupt aus den Augen bekommen und das ist das Beste.

Der Frühling ist schon weit fortgeschritten, dass man hinsehen kann, wo man will, alles ist grün; selbst hier in Ostfriesland. Man fühlt schon ordentlich die Ernte herannahen. Es geht zwar noch einige Zeit darüber hin, aber nicht mehr lange und wir haben Oktober und November, die Monate der Ernte. Der Bauer hat die Saat gesät, und der Bauer wird sie schneiden, wenn sie reif ist. Dann gibt es Brot für alle. Aus den Werkstätten und Fabriken kommen die scharfen Sensen aus Stahl, um das Korn zu schneiden. So arbeitet Stadt- und Landbevölkerung zusammen für eine gute und reichliche Ernte; die einen mit dem Hammer und die anderen mit Sichel und Sense. Ich hoffe, dass Du auch ferner bei guter Laune bleibst, und soll Dich von allen Bekannten grüßen; besonders von Lookvenne samt Zuwachs Alice. Meine Adresse wird sein: Arbeitsdienstlager Pfalzdorfermoor, Station Middelswesterloog (Ostfr.). Die besten Grüße von

(gez.) Otto.“


Was diesen Brief so einzigartig macht, ist die Tatsache, dass hier ein "Insider" des Emder Widerstandes einem anderen "Insider" verklausulierte Informationen zukommen lässt, die nicht nur politischen, sondern auch privaten Inhaltes sind.


Es war zwar eine allzu grobe Nachlässigkeit des Absenders, diesen Brief in die Zelle des Adolf Lentze zu schicken - denn Lentze war seit dem 26.02.1934 in Untersuchungshaft! Das Hamburgische Oberlandesgericht verurteilte ihn und etliche andere Emder sowie Bremer knapp ein halbes Jahr später zu langjährigen Gefängnisstrafen. Aber genau aus diesem Grund blieb uns das Schriftstück über die langen Jahre zwischen den Dokumenten der Gerichtsakten erhalten...


Bis heute gibt es nur ganz wenige selbstverfasste Nachrichten aus Emden während der ersten Periode des Faschismus an der Macht, die von Augen- und Ohrenzeugen aus Selbsterleben zeitnah berichtet werden.

Der Schreiber Otto Bösch hat sich zwar alle Mühe gegeben, die Schilderungen der Lage in der Hafenstadt und Umgebung so zu umschreiben, dass ein möglicherweise unbedarfter Untersuchungsbeamter die Brisanz des Berichtes nicht erkannt hätte. Aber uns heutige Leser erscheint dieser Versuch der Verschleierung doch etwas zu simpel.

Denn wirklich durchsuchte nur kurze Zeit später die Polizei Böschs Wohnung. Sie fand aber wohl außer einigen Dietrichen kein belastendes politisches Material, sodass gegen den derzeitigen Anführer der Emder Antifaschisten nur wegen „Besitzes von Einbruchswerkzeugen“ ermittelt wurde. Das Ergebnis waren immerhin 5 Monate Gefängnis.


Die Einschätzungen der aktuellen Lage des Widerstandes durch Bösch ist jedoch deshalb bemerkenswert, weil der Briefschreiber sich zu der Zeit keineswegs bedroht oder wenigstens entmutigt fühlte. Im Gegenteil, der letzte Absatz weist eindeutig auf ein äußerst positives Erwarten hin, dass die Machtverhältnisse sich schon bald wieder ändern und gerade den Kommunisten Auftrieb geben würden. Die Ernte, die im „Oktober und November“ mit „Hammer“ und „Sichel“ eingefahren werden sollte, weist unübersehbar auf die russische Revolution hin.

Interessant dabei vor allem auch die Rolle der vereinten Bauern und Arbeiter, der „Stadt- und Landbevölkerung“, die vereint den Faschismus überwinden sollten. Tatsächlich gab es starke Verbindungen des Parteiapparates der KPD in die zum Teil noch sehr unterentwickelten Fehn- und Moorgebiete und in die von den Großbauern beherrschten Marschlande. Böschs Einschätzung der Kräfteverhältnisse in der weiteren Umgebung Emdens kam deshalb wohl nicht von ungefähr. Trotzdem ein verhängnisvoller Fehler, wenn auch die Meinung des Emders mit Berichten aus dem übrigen deutschen Reich übereinstimmte, wonach die KPD ihre eigene Kraft ebenso falsch beurteilte wie die angenommene Schwäche der Nazis.


Das „Aquarium“ Emden und seine Bewohner teilt Bösch in die Kategorien „Makropoden“, Stichlinge und übrige Fische ein. „Makropoden“ sind alle bis dahin leitenden Funktionäre, deren Verhalten er bestenfalls als „schwerfällig“ ansieht. „Du kennst ja diese bedächtig langsamen (...) und verkalkten Spießer“, schreibt er.

Es muss zu dieser Zeit – also vor Böschs Übernahme der Gesamtleitung – in der Öffentlichkeit nur wenig von den Aktivitäten der Hitlergegner zu sehen gewesen sein. Das hängt aber eher mit der strikteren Abschottung der einzelnen sogenannten „5er-Gruppen“ zusammen, von denen Bösch aus Sicherheitsgründen selbst als Bezirksleiter nicht unbedingt etwas wissen musste. Er sieht deshalb „kein rechtes Leben im Aquarium“...

Deshalb wollte er zusammen mit einem weiteren (alten) „Stichling“ „Leben in die Bude“ bringen. Wer dieser andere Alte war, ist bis heute unbekannt. Möglicherweise handelt es sich um Ernst Brossat, mit dem Bösch wohl längere Zeit sehr vertraut gewesen ist und der in dem Brief als „Ernst“ (mit Ehefrau „Rieka“) genannt wird. Brossat tritt in den Untersuchungen der Nazipolizei kaum auf und ist auch später nicht mehr aktiv gewesen, was die erwähnte „Resignation“ des älteren „Stichlings“ bezeichnen würde.

Dagegen sind die Namen jener „dicksten Makropoden“, die „der Heizröhre zu nahe kamen“ und „mit dem Netz herausgeholt und isoliert“ wurden, bekannt:

Es handelt sich um Johann Janssen (Kalkwarf), Peter Kerbs, Fritz Loop, Heinrich Siemering, Habbo Voss und Martin Jürgens, die im April 1934 auf Grund des Verrates eines ehemaligen Bremer Spitzenfunktionärs verhaftet wurden. Ein weiterer „Makropode“, der bisherige Leiter des Bezirks, August Kraak, war gezwungen, nach Holland zu fliehen. Und auf Kraaks Vorschlag hin unterstellte sich „(d)ie führerlose Gemeinde (...) nun plötzlich freiwillig dem Kommando des jungen Stichlings“. Kraak ernannte Bösch völlig überraschend zu seinem Nachfolger. Es ist bis heute nicht ganz klar warum die Wahl auf den „Stichling“ fiel, vielleicht hing es mit dem Weiter-„boxen“ Böschs zusammen („Der junge boxte weiter.“).

Aber immerhin brachte der Neue wirklich mehr Dampf in die Emder Widerstandsorganisation. Man lese dazu die Absätze Mai/Juni 1934 in „"... ein außerordentlich gefährliches staatsfeindliches Nest..." hier auf unserer Homepage.


Interessant sind natürlich auch die eher privaten Mitteilungen, die Bösch an Lentzte schickt. Wobei Lentze wohl gewusst haben dürfte, dass der erwähnte „Hein“ – Hein Werno – bereits ebenfalls gefangen war. Denn beide Antifaschisten hatten in Bremen eng zusammengearbeitet und guten Kontakt, bis Werno die vorläufige Flucht nach Koblenz gelang.

Bösch persönliche Beziehung zu der erwähnten „Lini“ berichtet kurz über ein Privatleben der Menschen im Widerstand, das in diesem Fall wohl wenig glücklich verlief. „Lini“ scheint eine große Liebe Böschs gewesen zu sein, wenn er „eine zeitlang mutlos“ weiterleben musste, weil der Vater gegen die Verbindung mit einem ehemaligen Gefängnisinsassen war. Bösch hatte bis zum 15. März 34 eine einjährige Gefängnisstrafe wegen Diebstahls zu verbüßen gehabt, wobei man jedoch sehen muss, dass in den schweren Zeiten der Wirtschaftskrise viele Eigentumsdelikte begangen wurden, um die schlichte Not zu mildern. Das von Bösch beklagte Spießertum hat ihm wohl auch hier einiges Herzeleid zugefügt.

Darüber hinaus wird deutlich, wie wenig anders sich seine wirtschaftliche Lage nach der Entlassung gestaltete, wenn er anfangs nicht einmal „Geld mehr für Porto“ hatte...


Auch Lentze scheinen private Bande an Emden gebunden zu haben, obwohl die erwähnte „Lotte“ wirklich nur freundschaftlich mit ihm verbunden gewesen sein kann. Lieselotte Grimpe heiratete noch 1934 einen anderen Mann. Die gute Freundschaft ergab sich eher aus beider Tätigkeit im Jugendbereich.

Die übermittelten Grüße von „Alice“ aus der Lookvenne haben wohl einen ähnlichen Hintergrund. Denn hier ist sicher Alice Birth gemeint, die ebenfalls als junge Frau über den KJVD Kontakt zu Lentze gehabt haben wird.


Alles in Allem wirft dieser kurze Brief ein anderes, sehr persönliches und farbigeres Licht auf die Vorgänge im Emder Widerstand um die Mitte des Jahres 1934. Es ist sehr schade, dass nicht mehr solcher Dokumente erhalten geblieben sind.


Wer übrigens mehr über Adolf Lentze und die Geschichte seines persönlichen Kampfes gegen die Hitlerbarbarei vor und nach der Nazizeit lesen will, sei auf die Homepage seines Sohnes http://trel5.de/Vater.html verwiesen.



Zuschrift des Sohnes Thomas Lentze:


Lieber Herr Wendt,

 

Ihre Nachforschungen zum kommunistischen Widerstand in Emden waren bzw. sind für mich eine große Hilfe, das Leben meines Vaters Adolf Lentze zu ergründen. Dieser starb 1962 an den Folgen seiner langjährigen Haft im Zuchthaus Bremen und im KZ Sachsenhausen. Da meine Mutter nicht um die Erhaltung seines Nachlasses bemüht war, konnte ich Einzelheiten zu seinem Leben erst viel später über das Internet erfahren: zunächst über seine Begegnung mit dem Dichter Friedrich Griese unmittelbar nach Kriegsende, worüber dieser sich in zwei autobiografischen Schriften geäußert hat - allerdings in einer für Adolf Lentze sehr unvorteilhaften Weise.

 

Umso erfreuter war  ich, als ich auf der Seite der Ubbo-Emmius-Gesellschaft weitere Details fand, die meinen Vater von einer anderen Seite zeigen. Da ist zunächst der Bericht von Friedrich Loop über das Berufsverbot, sowie über die Gerichtsverhandlung, in welcher mein Vater sich weigerte, seine Kameraden zu verraten, wissend, dass ihn das ins KZ bringen würde. Weiterhin die Erwähnung in dem Bericht über "Ein außerordentlich gefährliches staatsfeindliches Nest" und schließlich der Abdruck des Briefes von Otto Bösch an den Untersuchungshäftling Lentze.

 

Ich will nicht verhehlen, dass ich, aus meiner Gegenwartsperspektive, dem Kommunismus kritisch gegenüberstehe und mich angesichts seiner Opfer in der Sowjetunion - nicht zuletzt auch unter den Parteifunktionären - frage, ob der Kommunismus die bessere Alternative zum Nationalsozialismus gewesen ist. Was wäre gewesen, wenn in Deutschland nicht die Nazis, sondern die Kommunisten die Macht ergriffen hätten? Was waren das überhaupt für Menschen, und was hat sie motiviert? Die Berichte, die Sie geben, sind insofern erhellend. Sie zeichnen eindrückliche Charakter- und Stimmungsbilder und vermitteln den Eindruck einer idealistischen Begeisterung unter den Kommunisten. Zweifellos waren viele charakterstarke, sehr mutige und aufopferungswillige Männer darunter.

 

Ich wünsche mir und allen an historischer Aufklärung Interessierten, dass Sie mit der Zeit noch viele weitere Ergebnisse werden veröffentlichen können!

 

Thomas Lentze

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