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Hans-Gerd Wendt:

Ein weiter Weg. Oder: wie vor tausend Jahren eine Schreibmaschine von Larrelt nach Emden gebracht wurde...


Vor über tausend Jahren? Oh ja! Anfang 1933, da diese Geschichte erlebt wurde, versuchte das tausendjährige Reich in Deutschland seine Gegner mit Terror und Willkür , mit Gefängnis, KZ und Folter zum Schweigen zu bringen - auch in Emden und Ostfriesland. Dutzende waren schon verhaftet und verschwunden! Dennoch gab es Kräfte, die weiterhin gegen die braunen Machthaber wirkten; und neben vielen Christen, Sozialdemokraten und anderen Antifaschisten leisteten auch die Kommunisten zähen Widerstand. Ihre Partei hatte ganz besonders die Wut der Nazis getroffen. Die KPD wurde als erste verboten und mit brutaler Gewalt unterdrückt.

 

Aber die Kommunisten gingen nicht ohne Vorbereitung in die Illegalität. Sie hatten sich fest zusammengeschlossen und verdeckt neu organisiert. So existierte nachweisbar auch in Larrelt noch bis mindestens 1938 eine Parteigruppe, die unter Anleitung der Emder Zentrale mit Flugblättern, Zeitungen und Mundpropaganda ihre Mitmenschen aufzuklären versuchte.


Vieles kam über den Hafen in die Stadt Emden und das damals noch durch Wiesen und Felder abgetrennte, weit entfernt scheinende Dorf. Aber manches wurde auch in versteckten "Druckereien" mit einfachen Schreibmaschinen und Abziehgeräten selbst hergestellt. Deshalb war eine Schreibmaschine ein besonderes Werkzeug zur politischen Einflußnahme.


Unsere kleine Geschichte beginnt zu einer Zeit etwa Mitte 1934, da gerade in Emden und Umgebung die Führung des kommunistischen Widerstandes "hochgegangen" und auch das letzte technische Gerät beschlagnahmt war. Sofort nach den Verhaftungen hatte sich jedoch eine neue anleitende Zelle gebildet, deren Kopf der Emder Otto Bösch war. Und der nun alles daran setzte, den Kampf weiter zu führen.


So kam es ihm äußerst gelegen, als er wenige Tage später von Hillrich Bokker erfuhr, daß auf dessen Dachboden in Larrelt noch eine Schreibmaschine aus der Zeit vor dreiunddreißig versteckt lagerte. Dieser Apparat mußte nach Emden! Nichts leichter als das, möchte man meinen. Rein mit dem Ding in den Kofferraum, und in fünf Minuten ist es in jeden anderen Stadtteil gebracht!

Zu der Zeit aber war das unmöglich. Einerseits natürlich, weil kaum jemand ein eigenes Auto besaß, andererseits, weil überall unsichtbare Augen, Spitzel und Denunzianten auf solche Vorgänge lauerten. Der Transport mußte möglichst unverdächtig mit immer verschiedenen Helfern und in Etappen bewältigt werden.

 

An einem der darauffolgenden Tage nach Feierabend macht sich also Bösch auf den Weg nach Larrelt, begleitet von dem Kumpel Jan Fegter. Der muß aus Tarnungsgründen mit, weil es so aussehen soll, als ob bei Bokker ein geselliger Abend stattfindet, ein harmloser Umtrunk. Und einen Anlaß dazu finden Arbeiter allemal. Nebenbei aber verabreden die drei, den alten Parteifreund de Boer einzuspannen, der die Maschine zunächst nach Logumer-Vorwerk bringen soll, wo Hinderk Wietjes für die weitere Unterbringung sorgen wird. Diese beiden Genossen wissen aber noch nichts von ihrem "Glück", sie werden jedoch schon einverstanden sein. Denn wer in diesen Zeiten noch geheimes Mitglied der KPD ist, ist auch bereit, mit Leib und Leben für die Sache einzustehen. Bokker verspricht, mit Wietjes zu reden...


Bösch sucht schon am nächsten Sonntagnachmittag Berend de Boer auf, der in Emden wohnt. De Boer ist Seemann, im Augenblick ohne Heuer. Deshalb hat er Zeit. Und er zögert auch nicht lange, den Transport zu übernehmen. Allerdings kennt er Bokker nicht und weiß auch nicht, wo der Larrelter genau wohnt (es gab in Emden und Umgebung zur Zeit des Verbotes über dreihundert eingeschriebene Mitglieder der Partei und noch viel mehr Sympathisanten). Bösch muß ihm die genaue Lage des Wohnhauses beschreiben und gibt ihm dann noch zur eindeutigen Identifizierung und als Ausweis für Bokker einen Zettel mit, auf dem er eine scheinbare Bestellung aufgibt: "Bringen sie mir bitte ein Fuder Grünfutter! Meyer." So war es verabredet worden.


Bösch klärt de Boer dann noch in soweit auf, daß er eine "Maschine" zu befördern hätte. Wohin, würde ihm schon gesagt werden. Das Haus, bei dem er vorsprechen soll, könne er leicht erkennen, am Deich bei der bezeichneten Stelle würde ein Mann auf- und abgehen, den er aber ja nicht anreden dürfe!


Als dann gegen Abend de Boer mit dem Fahrrad nach Larrelt fährt, findet er alles so vor, wie Bösch es beschrieben hatte. Da war der Deich, der wartende Mann und auch das besagte Haus. De Boer stellt sein Fahrrad an der Hecke ab und betritt ohne lange zu zaudern den Flur. Damals waren die Türen in der Krummhörn im allgemeinen nicht verschlossen. Drinnen wartet schon ein Unbekannter, erst später erfährt de Boer, daß das Hinderk Wietjes war. Er überreicht dem Fremden seinen Zettel, in der Hoffnung, daß der das Geschreibsel versteht. Und tatsächlich zieht Wietjes aus einem Rucksack einen schweren, verschlossenen Pappkarton und übergibt ihn mit wenigen Worten an den Emder. In diesem Augenblick kommt von draußen auch der Mann herein, der vorher am Deich gewartet hatte. Er ist sichtlich unruhig. Es ist Bokker , der Hausherr, aber de Boer weiß auch das nicht. Für die Geheimhaltung ist es unbedingt erforderlich, über Namen und Einzelheiten möglichst nicht aufgeklärt zu sein. Nur wohin die Reise weitergehen soll, muß der Seemann nun wissen. Wietjes beschreibt ihm genau den Weg zu einem anderen Haus in Logumer-Vorwerk.


Denn Wietjes kann den Transport nicht einfach selbst übernehmen. Er muß die in diesem Hause Lebenden schützen, wahrscheinlich Familienangehörige. Im Falle einer Entdeckung wäre nicht nur er selbst, sondern automatisch auch alle anderen Verwandten stark gefährdet. Ein Fremder, ein Kollege vielleicht, der nur mal eben so vorbeisieht -nebenher die Lage ausspäht, und, falls die Gelegenheit günstig ist, einen Karton vergisst - ist ein weit geringeres Risiko, man kann in der Not alles auf den Anderen schieben.


Bokker hält de Boer noch eine Weile zurück. Man redet nicht viel, aber es soll so aussehen, als tränke man ein Koppke Tee. Schließlich sieht der Larrelter an der Tür nach, ob die Luft rein ist. Nervös bedeutet er dann dem Emder zu kommen, und geht dann langsam vor dem in einigem Abstand folgenden Seemann her, bis dieser sich endlich auf sein Fahrrad schwingen kann und in Richtung Logumer-Vorwerk verschwindet...


Auf Schleichwegen in der Dämmerung steuert de Boer langsam in Richtung des nächsten Dorfes. Einzelheiten bleiben unbekannt. Als jedoch der Auftrag endlich ausgeführt ist, hat sich die Maschine Emden im Grunde nicht genähert. Aber in dem kleinen Ort Logumer-Vorwerk gibt es eine unverdächtige Möglichkeit, sie in die Hafenstadt zu bringen.

 

Es vergehen nun einige Tage, die Wietjes und seine Freunde nutzen, ihrerseits das weite Land und auch ihr Dorf zu beobachten, ob sich etwas Auffälliges tut. Aber die Lage bleibt ruhig. Dann endlich ist es soweit, daß Bokker seinen zweiten Mann ins Rennen schickt: Anton Friesinga. Warum ausgerechnet Friesinga der Richtige ist, das Paket weiter zu befördern, diesmal direkt bis Emden, ist nicht ganz klar. Über diesen Larrelter wird wenig bekannt. Zu vermuten wäre allenfalls, daß der Mann Arbeit im Hafen hat und möglicherweise einen großen Teil der Strecke mit dem Rad über wenig befahrene Wege durch die Polder in den Hafen und weiter in die Stadt hineinkommt. Das Ziel Friesingas dagegen ist genau bekannt: Es ist das Konsum in der großen Brückstraße, wo Johann Janssen schon dringend auf ihn wartet. Dazu muß er aber trotz aller Schliche doch durch die Innenstadt, ein großes Risiko. In einiger Entfernung folgt ihm deshalb Bokker. Er hält sich bereit, einzugreifen, wenn irgendein unvorhergesehenes Ereignis eintreten sollte. Im Falle einer Polizeikontrolle aber wären beide machtlos. Dann könnte Bokker nur noch umkehren und die anderen Beteiligten warnen. Doch es geht gut. Die Schreibmaschine kommt unentdeckt bei Janssen an, der sie übernimmt und sofort im Lagerraum des Ladens unter anderen Waren versteckt. Friesinga und Bokker können aufatmen.


Aber noch ist nicht das Ende der Reise für den geheimnisvollen Karton erreicht. Das Konsum ist nur eine weitere Etappe eines sorgfältig geplanten Weges, der im Falle einer Entdeckung es der Gestapo unmöglich machen soll., alle Beteiligten zu fassen.


Am späten Abend desselben Tages erscheint ein sehr junger Mann, fast ein Kind noch am Konsum, weist sich auf die bekannte Art bei Janssen aus und erhält einen unförmigen Packen, den er auf unbekanntem Wege direkt in die Kneipe "Kap Hoorn" in der Neuen Straße (so hieß damals die Friedrich-Ebert-Straße) bringt. Auch der Wirt Scheiwe ist eingeweiht und versteckt das gefährliche Teil bis zum nächsten Morgen, an dem die Schreibmaschine endgültig ihren Bestimmungsort erreichen wird. Doch wo der ist und was dann weiter geschieht, ist nicht überliefert. Erst vier Jahre später taucht sie wieder auf, diesmal in Groß-Midlum. Das heißt, sie taucht eigentlich ab in den örtlichen Löschteich; denn der letzte Besitzer warf sie aus Angst dort hinein. Denn kurz zuvor hatte eine der größten Verhaftungsaktionen der Nazis begonnen, die Emden und Ostfriesland gesehen haben.

 

Fast hundert Antifaschisten werden verschleppt und zu langjährigen Gefängnis- und Zuchthausstrafen verurteilt. Keiner der oben Genannten wurde geschont: de Boer und Wietjes kamen noch "glimpflich" davon, sie erhielten jeweils ein Jahr Gefängnis, weil ihnen wenig nachzuweisen war. Aber Bokker, Bösch, Fegter Scheiwe und Janssen mußten für Jahre in die Zuchthäuser und Konzentrationslager. Johann Janssen starb am 3.5.45 in den letzten Tagen der Hitlerdiktatur als Insasse des KZ Neuengamme.


Und woher wir das alles wissen? Von den Beteiligten selber nicht. Die Allermeisten haben auch nach Krieg und Faschismus über ihre Taten und Erlebnisse geschwiegen, weil im politischen Klima der jungen Bundesrepublik niemand etwas hören wollte von ihrem aufopferungsvollen Einsatz. Und heute sind so gut wie alle lange schon verstorben.


Nein, es sind die von den Nazis zurückgelassenen Akten der Verhöre und Prozesse, die ein wenig Aufschluß über die Vorgänge in jenen Jahren geben. Vieles ist unvollständig, falsch berichtet oder bleibt überhaupt unerwähnt. Diese Unterlagen müssen deshalb mit allen noch zur Verfügung stehenden Mitteln geprüft werden, um die Wahrheit zu finden.

Und das ist das Anliegen, dem sich die "Ubbo-Emmius-Gesellschaft" verschreiben hat. Ihre Mitglieder versuchen, auch von den Kindern und Kindeskindern zu erfahren, was ihre Väter taten. Und wenn Ihnen, der Sie das jetzt gelesen haben, plötzlich die Zeit vor über sechzig Jahren wieder gegenwärtig wird, und Ihnen das Eine oder Andere zum Thema einfällt: Teilen Sie es uns mit.